Die "gute fachliche Praxis" 202312
2014: Mehrere 100 ha Folien im Vogelschutzgebiet
und nun auch noch "Heckenpflege" -
darf die Landwirtschaft "alles"?
Die "gute fachliche Praxis" (gfP) ist der Begriff im deutschen Naturschutzrecht mit der größten praktischen Auswirkung für alle Flächen, die nicht spezielle Schutzgebiete sind, also für das ganz "normale" Land und damit für den größten Teil der Bundesrepublik. In vielen Gesetzen - und darüber hinaus in Verordnungen für Schutzgebiete - steht nach der Aufzählung der Ge- und Verbote, dass diese für die nach der "guten fachlichen Praxis" (gfP) ausgeübte Landwirtschaft (und ebenso Forst- und Fischereiwirtschaft) nicht gelten.
Dabei fehlt eine Definition, was "gfP" ist. Das legen Politik, Behörden und die Landwirtschaft so aus, dass durch diesen Gummibegriff alles erlaubt ist, wenn es nur "fachliche Praxis" ist - d.h. wenn es mehrere machen. Ob sie auch "gut" ist, wird nicht gefragt.
In den älteren Gesetzen heißt es statt gfP "ordnungsgemäße Landwirtschaft" - gemeint ist das gleiche. Diese Privilegierung wird auch als "Landwirtschaftsklausel" bezeichnet.
-
Entstehung
Die Privilegierung war unter den besonderen Umständen der Nachkriegsjahre verständlich: das Land verwüstet, viele Landwirte nicht aus dem Krieg zurückgekommen, 12 Mio. Flüchtlinge aus den Ostgebieten, gleichzeitig diese Landesteile verloren gegangen - da war es fraglich, ob die Landwirtschaft imstande sein würde, die Bevölkerung zu ernähren. Naturschutz war zweitrangig, zumal die Wirtschaftsweise im Vergleich zur heutigen industriellen Landwirtschaft noch "heile Welt" war. Soweit es in den Behörden überhaupt Naturschutzbeauftragte gab, waren sie in den Landwirtschaftsministerien angesiedelt.
-
Entwicklung ab den 1960'er Jahren
Das änderte sich allmählich. 1962 erschien in USA das berühmte Buch "Der stumme Frühling" von Rahel Carson über das drohende Verschwinden der Vögel als Folge des immer stärkeren Einsatzes chemischer "Pflanzenschutzmittel". Auch die deutsche Landwirtschaft nahm industrielle Züge an (Flurbereinigung, wachsender Einsatz von Chemie, Trennung von Pflanzen- und Tier"produktion" usw.), wobei die Naturausstattung im Vergleich zu heute noch paradiesisch war. Für die in dieser Zeit beginnende deutsche Umweltbewegung stehen Namen wie Horst Stern, Bernhard Grzimek, Heinz Sielmann, Hubert Weinzierl u.a.. 1970 richtete Bayern als erstes Bundesland ein Umweltministerium ein (im Bund erst ab 1986); 1972 veröffentlichte der Club of Rome seine "Grenzen des Wachstums"; 1975 Herbert Gruhl "Ein Planet wird geplündert".
-
Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) 1976
Bis dahin galt das Reichsnaturschutzgesetz von 1935, das in der Einleitung schon von der "intensiven Land- und Forstwirtschaft" spricht, aber keine Sonderregelungen für die Landwirtschaft enthält.
Dagegen heißt es im BNatSchg 1976:
§ 1 (3): Der ordnungsgemäßen Land- und Forstwirtschaft kommt bei der Erhaltung der Kultur- und Erholungslandschaft eine zentrale Bedeutung zu; sie dient in der Regel den Zielen dieses Gesetzes.
Des weiteren soll die ordnungsgemäße Landwirtschaft niemals "Eingriff" im Sinn des Gesetzes sein (§ 8 (7)) und auch die Schutzvorschriften für "besonders geschützte Arten" gelten für diese Landwirtschaft nicht (§ 22 (3)).
-
Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) 1974
Der Gesetzgeber "kann auch anders". Das kurz vorher verkündete BImSchG, das hauptsächlich für "Anlagen" im Bereich Industrie, Verkehr und Handwerk gilt, setzt für alle Emissionen (Abgas, Staub, Lärm, Erschütterungen usw.) Grenzwerte fest. Bei deren Überschreiten ergeht eine Mahnung; bleibt diese ergebnislos, kann der Betrieb geschlossen werden! Also von Gesetz wegen keinerlei Privilegierung, trotz der ungleich größeren Bedeutung dieser Wirtschaftszweige. Dass es auch hier zu - teils geduldeten - Übertretungen kommt, ist eine andere Sache; sie sind aber Ausnahmen.
-
Das Umweltgutachten des SRU 1985
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) ist ein Gremium namhafter Wissenschaftler, die von der Bundesregierung berufen werden und regelmäßig mit Gutachten zum Stand der Umwelt und daraus abgeleiteten Empfehlungen Stellung nehmen. Die Gutachten stehen auch im Internet zur Verfügung, oft mehrere 100 Seiten lang, aber so sachlich und kompetent, dass sie Lesevergnügen bereiten. Sie beurteilen die Entwicklung von Natur und Umwelt äußerst kritisch. Wir wundern uns, dass immer wieder Wissenschaftler berufen werden, die ihre Aufgabe derart verantwortungsbewusst wahrnehmen und nicht solche, die Gefälligkeitsgutachten abliefern.
Als Beleg dafür, wie der Zustand der Natur und die dafür verantwortliche Umweltpolitik schon vor mehr als 30 Jahren (!) beurteilt wurden, seien hier einige Zitate wiedergegeben:
"Die außerordentliche Produktionssteigerung in Pflanzenbau und Tierhaltung der letzten Jahrzehnte hat eine problematische Lage herbeigeführt, die eine Neuorientierung sowohl agrarpolitisch als auch umweltpolitisch geboten erscheinen lässt. Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften ist die Landwirtschaft, so wie sie bis jetzt betrieben wurde, nicht mehr finanzierbar; gleichzeitig hat der noch immer ungebrochene Trend zu weiterer Intensivierung Umweltschäden eintreten und Umweltgefahren sichtbar werden lassen, die nicht länger hinnehmbar sind."
"... Daher war es eine gesetzgeberische Fehlleistung, mit den Landwirtschaftsklauseln das Bild einer heilen landwirtschaftlich geprägten Umwelt auch dann noch aufrechtzuerhalten, als die Landwirtschaft Bild und Zustand der überkommenen Kulturlandschaft schon weithin verändert und beeinträchtigt hatte und laufend weiter bedrohte."
"... Die Landwirtschaftsklauseln des Bundesnaturschutzgesetzes und der entsprechenden Ländergesetze sind aufzuheben."
"... Statt dessen sind in diesen Gesetzen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen Betreiberpflichten für die Landwirte einzuführen, die sich auf alle landwirtschaftlichen Tätigkeiten erstrecken."
"... Das steht nach Überzeugung des Rates auch nicht im Widerspruch zu dem Ziel der Landwirtschaft, die Bevölkerung mit ausreichenden Mengen hochwertiger Nahrungsmittel zu angemessenen Preisen zu versorgen." (Alle Hervorhebungen durch Fettdruck vom Verfasser dieses Beitrags)
Das Gutachten - wie viele spätere auch - wurde den Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Bundestagsdrucksache (hier 10/3613 vom 3.7.1985) zugeleitet - wie man sieht, bis heute ohne Erfolg.
-
Bundesnaturschutzgesetz 1998
Der Neufassung des Gesetzes gingen jahrelange Diskussionen auch seitens der Parteien voraus. Wir zitieren aus den Vorschlägen der damaligen Oppositionsparteien SPD und GRÜNE.
Aus der Vorlage der Bundestagsfraktion der SPD; Bundestagsdrucksache 13/1930 vom 3.7.1995:
"... Das Bundesnaturschutzgesetz muss grundlegend novelliert werden. Es hat nicht dazu beigetragen, die zunehmende Zerstörung der Lebensräume und der natürlichen Lebensgrundlagen der wildlebenden Tier- und Pflanzenarten und der Landschaft zu verhindern. Der erschreckende Rückgang der Tier- und Pflanzenarten fordert zum schnellen Handeln auf. Es fehlen klare Rahmenvorschriften für den Natur- und Landschaftsschutz, die jedermann zu einem umweltschonenden Verhalten verpflichten. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Land- und Forstwirtschaft, Verkehr, Bauen, Freizeit und Tourismus."
"... Durch Streichung der Landwirtschaftsklauseln entfällt die Privilegierung der Land- und Forstwirtschaft; es werden Betreiberpflichten für die Land- und Forstwirtschaft festgelegt."
Aus der Vorlage der Bundestagsfraktion der GRÜNEN; Bundestagsdrucksache 13/3207 vom 5.12.1995:
"... ist eine grundsätzliche Neukonzeption des Naturschutzrechtes und der Naturschutzpolitik erforderlich."
"... Jedwede Naturnutzung muss naturverträglich sein und hat sich an den in den §§ 2 und 6 genannten Grundsätzen zu orientieren."
"... Landwirtschaftliche Naturnutzung gilt als naturverträglich, wenn ..." (folgt eine Aufzählung von Grundsätzen, die dem entsprechen, was aus Sicht des Naturschutzes zu "guter fachlicher Praxis" gehören müsste).
Das BNatSchG 1998 wurde am 21.9.1998 bekanntgemacht. Am 27.9.1998 war die Bundestagswahl, die zur rot-grünen Regierung 1998-2005 führte. Was hat SPD und GRÜNE bewogen, ihre vorher in der Opposition geäußerten Ansichten zum dringend nötigen Fortfall der Landwirtschaftsklausel und zur Einführung allgemeiner Betreiberpflichten so komplett zu vergessen?
-
Bundesnaturschutzgesetz 2009
Auch in dieser Neufassung des Gesetzes hat sich an der Privilegierung der Landwirtschaft im Ergebnis nichts geändert (vgl. §§ 5 (1) und (2), 14 (2) und 44 (4)). Über diese Vorschriften hinaus neigen die Behörden dazu, die Landwirtschaftsklausel auch noch bei der Anwendung anderer Teile des BNatSchG heranzuziehen.
-
Unsere Meinung
Land- und Forstwirtschaft nutzen 82 % der Fläche unseres Landes, davon die Landwirtschaft alleine 53 %. Wenn man den immer noch kleinen Anteil der ökologisch wirtschaftenden Betriebe abzieht, wird also rund die Hälfte unseres Landes von der industriellen Landwirtschaft bearbeitet, die dabei aufgrund der Landwirtschaftsklauseln - verschlimmert noch durch das behördliche Vollzugsdefizit - nahezu keine Rücksichten auf Natur und Umwelt nehmen muss.
Große Teile der Naturschutzgesetze gelten damit im wesentlichen nur für die restlichen 18 % unserer Landesfläche - einschließlich aller Siedlungs- und Industriegebiete. Dazu wiederum SRU 1985, Rz. 1192: "Bei Sonderkulturen - häufig auch beim Maisanbau - führt die hohe Intensität der Bodennutzung dazu, dass sie ökologisch in vielen Fällen eher noch schlechter zu bewerten sind als manche Industriegelände und Siedlungsflächen."
Die industrielle Landwirtschaft führt zu Schäden an Landschaft, Artenvielfalt, Böden, Klima und Gewässern. Das wird im wesentlichen nur noch von Joachim Rukwied, seit 2012 Präsident des Deutschen Bauernverbandes bestritten. Er betont immer wieder, dass wir keine Agrarwende brauchen; in der Landwirtschaft sei auch jetzt alles in Ordnung.
Wie lange wollen/können/müssen wir noch hinnehmen, dass ein nach den üblichen Kriterien ziemlich unbedeutender Wirtschaftszweig einen großen Teil unseres Landes kaputt machen darf und dafür sogar noch Subventionen von rund 10 Milliarden € pro Jahr erhält?
-
Endlich - Bundesverwaltungsgericht 4 C 4.18 vom 13.6.2019
Mit diesem Urteil ist die Landwirtschaftsklausel der "guten fachlichen Praxis" endlich eingeschränkt worden. Bis dahin war der Landwirtschaft aufgrund der Auslegung dieses Gummibegriffs außerhalb von Schutzgebieten - manchmal auch noch innerhalb - praktisch alles erlaubt. Nunmehr gilt sie nur noch für die kleinen Entscheidungen der "täglichen Wirtschaftsweise". Der Umbruch von Grünland zu Ackerland gehört auf keinen Fall dazu, der Fruchtwechsel von einjährigen Ackerfrüchten zur Sonderkultur Spargel ebenfalls nicht. Das hat auch schon für unsere Spargelfälle Bedeutung. Nach einer Verordnung des Landesumweltamtes Brandenburg ist der Spargelanbau rechtswidrig, wenn er nicht im Voraus angezeigt und genehmigt worden ist - und kann diese Tatsache auch nicht mehr nachträglich geheilt werden.
-
OVG Niedersachsen 4 ME 11.12 vom 12.5.2023
Maßnahmen, die die für ein Landschaftsschutzgebiet geltenden Schutzziele gefährden und in der dazugehörigen Verordnung nicht ausdrücklich zugelassen sind, können auch nicht der "guten fachlichen Praxis" entsprechen und sind daher unzulässig. Klingt eigentlich wie selbstverständlich, wurde aber jahrzehntelang anders behandelt.
Links
-
Bundesnaturschutzgesetz 1976 hier
-
SRU Sondergutachten "Umweltprobleme der Landwirtschaft" 1985; Bundestagsdrucksache vom 3.7.1985 hier
-
Gesetzentwurf SPD; Bundestagsdrucksache vom 3.7.1995 hier
-
Gesetzentwurf GRÜNE; Bundestagsdrucksache vom 3.7.1995 hier
-
Bundesnaturschutzgesetz 2009 hier